Liebes Tagebuch, heute ist der 10. Februar 2023.
Direkt nach dem Aufwachen war mein erster Gedanke: „Ich muss das verarbeiten.“ Natürlich meinte ich damit den Missbrauch durch meinen Therapeuten.
Ich verstehe meine deutlichen und offensichtlichen Rufe nach Verarbeitung, weiß aber nicht genau, wie man solche schweren Traumata bewältigt.
Nachdem ich mich angezogen hatte, dachte ich: „Das Schreiben tut mir oft gut.“ Also durchbrach ich meine Routine und setzte mich sofort an den Küchentisch, um zu tippen.
Genau diesen Text schreibe ich, denn ich hoffe, durch das Schreiben herauszufinden, wie ich vorankommen kann. Während ich die Buchstaben und Sätze eintippe, beruhigen mich die Klänge von Ludovico Einaudi, die leise über meine Silent-Kopfhörer in meine Ohren dringen. Es ist das Album „Time Lapse“, das mich in diesen traumähnlichen Zustand versetzt und die Worte einfach fließen lässt.
Tom bemerkt sofort, dass etwas nicht stimmt. Ich beteilige mich nicht wie üblich am morgendlichen Geschehen in der Küche. Wortlos und ohne viel Aufhebens legt er meine Tabletten neben mich auf den Tisch und reicht mir ein Glas Wasser. Ein knappes Lächeln als Dank entweicht meinen Lippen.
Ich fühle mich wie in Trance. Bin ich immer noch in diesem Trauma gefangen? Beherrscht es immer noch mein Leben? Habe ich mir die Schritte zur Besserung nur vorgemacht?
Das musikalische Meisterwerk „Life“ von Einaudi ist nun weit in der zweiten Hälfte des Stücks angelangt. Die Streichinstrumente geben jetzt alles, als würden sie um ihr Leben spielen. Dieser Höhepunkt des Stücks verleitet mich dazu, kurz die Augen zu schließen und im Takt mitzuschwingen. Ganz ohne darüber nachzudenken, wie das auf meine Familie wirkt, ganz ohne überhaupt etwas von zu Hause mitzubekommen, fliege ich durch Raum und Zeit und tauche in eine andere, beschützte Welt ein. Ganz allein durch meine Gedanken.
Ich bin so weit weg. Dann verstummt das Orchester plötzlich. Das Musikstück ist zu Ende. Mein Trauma nicht.
Immer noch leicht in Gedanken versunken und mit dem Wunsch, einfach wieder in diese friedvolle und unbeschwerte Welt abzutauchen, verschwimmt mein Blick bei den ersten Klängen des neuen Pianostücks „Discovery At Night“. Die sanften Klavieranschläge führen mich zurück in eine Welt, in der ich mich gerade am „besten“ fühlen kann.
Dankbar für diesen kurzen Ausflug in ferne Welten öffne ich wieder meine Augen. Meine kleine Mimi steht vor mir und möchte, dass ich ihr heute, zum Zeugnistag, besonders schöne Zöpfe flechte. Das mache ich gern.
Und so hat die Realität mich wieder einmal eingeholt.
Aber ich schreibe weiter. Versprochen!
Deine Molly.
Schreibe einen Kommentar