Liebes Tagebuch,
Unserem Widerspruch auf das erste Pflegegutachten wurde abgeholfen! Ich bin begeistert! … Aber langsam und von vorn.
Wir haben trotz meiner jahrzehntelangen Erkrankung, bisher nie einen Pflegegrad für mich beantragt. Meine größte Angst war es immer missverstanden oder nicht ernst genommen zu werden. Denn das war die gängige Praxis der Ärzte und Mediziner, mit denen ich bisher zu tun hatte.
Im vorletzten schweren Crash (Anfang 2022) hatte ich jedoch meinem Mann geschworen, würde es noch mal zu so einen schweren Absturz kommen, würde ich auch endlich Pflege und Rente beantragen.
Ich wog mich lange in Sicherheit, denn ich war 20 Monate ohne PEM und erfüllte nicht mehr die CCC für Myalgische Enzephalomyelitis (ME). Ich war in Remission und dachte, diese schwere Erkrankung hinter mich gebracht zu haben.
Als ich dann aber im Frühjahr 2024 erneut so heftig gecrasht bin, habe ich mein Wort gegenüber meinem Mann gehalten und die Scham der Begutachtung über mich ergehen lassen.
Wir bereiteten uns auf den Pflegebegutachtungstermin mithilfe des Fatigatio Leitfaden vor.
Wir erstellten eine Mappe mit allen wichtigen Inhalten zu meinem medizinischen Fall. Aber die Gutachterin nahm unsere Ausarbeitung weder entgegen, noch würdigte sie ihr einen Blick.
Es dauerte keine 20 Sekunden, und sie sagte: „Ich kenne dieses Bild das sieht nach Depressionen aus“.
Mein Mann bat sie mehrfach, das Gespräch außerhalb meines Zimmers stattfinden zu lassen, um mich zu schonen. Doch sie bestand darauf, es in meinem Beisein zu besprechen.
Mehrmals musste er sie darauf hinweisen, dass Myalgische Enzephalomyelitis keine Depression ist.
Ich konnte dem Gespräch der beiden überhaupt nicht folgen. Ich habe mir so sehr gewünscht, sie würden einfach nur gehen. Selbst doppelter Gehörschutz und Schlafmaske waren für mich nicht Schutz genug. Ich crashte natürlich nach ihrem “Besuch”.
Wie sich zeigte, war meine Angst begründet. Ich wurde von der Gutachterin, trotz Schweregrad Schwerstbetroffen, trotz kompletter Bettlägerigkeit, trotz einem Bell Score von um die 10 Punkte und einem FUNCAP von 0,6 „nur“ bei Pflegegrad 2 mit 33.7 Punkten eingeordnet.
In ihrem Gutachten empfahl sie mir einen Psychiater aufzusuchen, eine Aktivierungstherapie zu starten, einen Gehstock zu benutzen und einen Toilettenrollstuhl zu beantragen. Letzteres war tatsächlich ein hilfreicher Zugewinn. Der Rest war Nonsens einer unwissenden „Fachverständigenden“.
Wir waren nicht nur verwirrt über das Ergebnis, sondern auch enttäuscht über die fehlende Hilfe. Daraufhin legten wir Widerspruch ein. Dieser umfasste insgesamt 136 A4 Seiten.
Ausgefüllte Fragebögen, Diagnosekriterien und Fachartikel zu ME/CFS
Ich habe es meinem Mann und meinem Vater zu verdanken, dass Sie sich die Zeit genommen haben und alles zusammengetragen haben, was wichtig erschien. Zu den eingereichten Dokumenten gehörten neben der umfassenden und konkreten Darstellung meines Zustandes unter anderem wissenschaftliche Artikel über Myalgische Enzephalomyelitis, z.B. den von Frau Prof. Dr. Scheibenbogen aus dem Ärzteblatt.
Darüber hinaus enthielt unser Widerspruch einen Verweis auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Pflichten von Sachverständigen.
Auch der Artikel aus dem SpringerMedizin Verlag “Die Ärztliche Begutachtung vom 16.12.2023 Chronisches Fatigue Syndrom ME/CFS und Komorbiditäten” war anbei.
Gesprächsprotokolle, die wir nach dem Termin mit der Gutachterin (ich) diktiert und (mein Mann) geschrieben haben. Die vorher von uns gut vorbereitete und umfassende “Mappe zur Begutachtung durch den MDK”. Die wir mehrmals der Gutachterin übergeben wollten. Denn diese enthielt bereits die wichtigsten Dokumente wie die vorausgefüllten Pflegekriterien mit Erläuterungen, warum welche Punkte zutreffen würden. Auch alle pflegerelevanten Unterlagen wie:
- eine Übersicht zu Medikamenten und Anwendungen
- Informationen zu speziellen Diäten wegen Nahrungsmittelunverträglichkeiten
- meine Ärzte- und Therapeutenliste und alle möglichen Arztbriefe und Verordnungen.
Hierbei hat es geholfen auch alle Komorbiditäten (Begleiterkrankungen) aufzuzeigen. Es schien wesentlich von Vorteil zu sein, Fibromyalgie und Migräne anzugeben. Zusätzlich zu den Arztbefunden habe ich alle Fragebögen zu POTS und ME ausgefüllt angehangen. Von der Charité den Hand Dynamometer Test, den passiven Stehtest (PoTS) und und und.
Verschiede Fragebögen hatte ich auch schon mehrfach in meinem Leben ausgefüllt, wodurch ein Trend erkennbar war.
Ebenfalls dabei waren das TUM Screening auf Post-Exertionelle-Malaise (PEM) und die IOM diagnostischen Kriterien ME/CFS-SEID.
Ich bin mir sicher, dass die Gutachterin auf das gleiche Ergebnis gekommen wäre, hätte sie sich all das vorher angesehen und berücksichtigt. So wie es der Gutachter nach ihr und unserem ausführlichen Widerspruch getan hat.
Zweites Gutachten durch den MDK
Ich bin nach wie vor mehr als überrascht, dass der neue Gutachter nicht nur ME kennt, sondern auch entsprechend gehandelt hatte.
Er las nicht nur unseren Widerspruch, sondern wusste auch genau, was wir geschrieben hatten. Er führte ein zweieinhalbstündiges Gespräch mit meinem Mann außerhalb von meinem Zimmer durch.
Mich kontaktierte er zweimal für fünf Minuten. Zum Anfang hin und später am Schluss nochmal. Er hat mich nicht nur rücksichtsvoll und respektvoll behandelt, sondern auch alle unsere Argumente bestätigt.
Er stufte meinen Zustand sogar noch schlechter ein, als wir es taten. “Seine Beratung war Klasse” schwärmte mein Mann im Nachhinein. Der Gutachter kam er auf eine Punktzahl von 66 Punkten statt seiner Vorgängerin mit 33 Punkten. Damit hätte er mich fast in Pflegegrad 4 eingeteilt.
Ich glaube meiner kognitiven Verbesserung, der H.E.L.P. Apheresen und Immunadsorptionen ist es zu verdanken, dass ich kein noch schlimmerer Pflegefall geworden bin.
Ehrlich gesagt, bin ich sehr froh und dankbar für dieses faire Gutachten. Es ist heilsam endlich mal im medizinischen Bereich ernst genommen zu werden. Zugleich ist es eine Anerkennung dafür, was mein Mann und ich seit vielen Jahren alleine bewältigen, ohne auf die uns schon damals zustehenden Unterstützung.
Mein Gefühl ist, Myalgische Enzephalomyelitis wird immer bekannt und wird so langsam ernster genommen. Dafür bin ich dankbar.
Deine Molly